Sage mir ihren Namen, und ich sage dir, wie sie wirkt (die Diagnose)
Diagnosen in psychotherapeutischem Rahmen können eine enorme Wirkung entfalten. Ein Mensch, mit vielen – sehr begründeten – Ängsten im Leben, kommt in eine psychotherapeutische Praxis. Nach einer Viertelstunde eröffnet ihm der Therapeut: Sie haben eine Angststörung.
Was passiert, wenn die Diagnose auf Störung lautet?
Der Mensch, sofern er diese Therapeutengeschichte kauft, hat ein schwerwiegendes Problem. Bislang erlebte er Ängste. Nun aber, da ihm eine Angststörung zugeschrieben wurde, nun bewertet er die Ängste außerdem als falsch. Wie soll hier das Leben weitergehen? Der Mensch soll, wenn es nach dem störungsdeterminierten Gesundheitssystem geht, gemeinsam mit der Krankenkasse, dem Therapeuten und womöglich mit der Pharmaindustrie gegen etwas ankämpfen. Der vermeintliche Feind (die Angst) ist jedoch ein treuer Verbündeter eines Ereignisses, das womöglich schon lange zurückliegt.
Nehmen wir an, der Mensch hatte eine traumatische Erfahrung. In frühester Kindheit wurden ihm existenzielle Lebensfaktoren (Zuwendung, Nahrung, körperliche oder seelische Unversehrtheit) vorenthalten oder plötzlich weggenommen. Dies kann auch in der Adoleszenz oder im Erwachsenenalter geschehen sein. Die Angst, einen derart krassen Verlust erneut zu erleben, bewahrt ihn vor Beziehungen. Oder sie lässt ihn aggressiv sein. Der Mensch zieht sich zurück. Daher ist diese Angst, die nur zu dieser Lebensgeschichte passt, nicht in einem Katalog (ICD-10, DSM V) zu finden. Sie liegt in den Wurzeln dieses Lebens. Die Aufgabe ist es, das Wachstum neuer Äste und Blätter zu begünstigen.
Die therapeutische Verantwortung liegt daher darin, die Lebensgeschichte ab der ersten Therapiestunde um neue Kapitel zu bereichern. Die bisherige Lebensgeschichte ist dabei zu würdigen. Sie darf nicht abgewertet oder mit einem Störungskatalog abgeglichen werden.
Der Mensch hat eben nicht
- eine Anpassungsstörung
- eine Depression
- eine Zwangserkrankung
- ein Messie-Syndrom
Der Mensch zeigt Verhaltensweisen, Denk- und Sprachmuster, die anderen Mustern ähneln. Diese Ähnlichkeit erlaubt keinen ernsthaften Rückschluss auf Wissen. Sie gibt allenfalls Anhaltspunkte für Hypothesen und Fragen an die Patienten. Die einzigen Experten hinsichtlich der Welt, in der sie leben, sind die Patienten (Klienten) selbst.
Deshalb sind Diagnosen psychischer Störungen mit größter Vorsicht zu verwenden, insbesondere im nichtpsychiatrischen Kontext, also bei den als neurotisch eingestuften Alltagsschwierigkeiten, den Ängsten, Erschöpfungszuständen, Aufmerksamkeitsproblemen, Rückzügen und allem, was über kurz oder lang in ein depressives (niedergedrücktes) Erleben führen kann.
Mehr dazu, wie aus Diagnosen mit finalen Wirkungen neue Beschreibungen werden, die zu Entwicklungen führen, finden Sie hier auf der Seite, die Reframing einfach erklärt.