Angeblich falsche Gefühle

Angeblich falsche Gefühle

„Deine Gefühle sind falsch” – eine Botschaft mit fataler Wirkung

Viele in Psychiatrie und Psychotherapie gehen davon aus, ein besonders angsterfüllter Mensch würde an einer Störung leiden, wenn er Ängste, Getriebensein, Niedergeschlagenheit und irgendwann auch Erschöpfung fühlt und beschreibt. Bei einer systemisch-differenzierenden Betrachtung von Phänomenen wie Angst, Antriebslosigkeit und Niedergeschlagenheit können die Kontextbedingungen sichtbar werden, in denen diese Phänomene auftauchen. Eine Person, die Angst hat, andere aber sagen hört, die Angst wäre eine Angststörung, kann es erst richtig mit der Angst zu tun bekommen – was wiederum eine gesunde Reaktion ist. Wer schon viel zu lange über seine Grenzen gegangen ist und dann auch noch „gegen seine Depression“ kämpfen soll, ignoriert damit seine Grenzen erneut.

Der folgende Text ist ein Auszug aus „Burnout-Prävention und -Intervention im Marketing – Anleitung zu innerer Change-Kommunikation, freundlichen Selbstbriefings und gesunder Erschöpfung
von Johannes Faupel, Springer Gabler 2020

Im Wein liegt – hier – die Wahrnehmung: Loriot

Die wahrscheinlich einprägsamste und schnellste Darstellung der Infragestellung von Gefühlen auf diesem Globus stammt von Loriot. In der Szene mit der Weinprobe (Vertreterbesuch). Sehen Sie sich den Filmausschnitt an, damit Sie die Absurdität der Gefühlsverneinung sehen.

Vicco von Bülow als Vertreter Blümel des Weinguts Pahlgruber & Söhne reicht Frau Hoppenstedt (Evelyn Hamann) ein Glas „77er Oberföhringer Vogelspinne“.

Nachdem sie probiert hat, fragt er: „Was spüren Sie auf der Zunge?“

Frau Hoppenstedt sieht ihn entrückt an: „So ein pelziges Gefühl.“

„Falsch!“ korrigiert Herr Blümel sofort: „Die Oberföhringer Vogelspinne ist blumig und überrascht durch ihre fruchtige Frische.“

Falsch!

Deine Gefühle, Deine Wahrnehmungen sind falsch! (Größtmögliche Infragestellung einer Person).

Das Geschmackserlebnis war angeblich falsch. In der genialen Filmszene ist das natürlich umwerfend komisch.
Im echten Leben kann es einen tatsächlich umwerfen, wenn die eigenen Ge- fühle verleugnet, infrage gestellt oder sogar als krank bezeichnet werden. Einige Beispiele:

  • Wenn der Erwartungsdruck im Job steigt, während die Informationen immer dünner werden …
  • Wenn der Tonfall kälter wird, weil die Agentur einen wichtigen Kunden verloren hat …
  • Wenn die Gereiztheit zunimmt, weil abends zu Hause jemand wartet, während die Agenturnachtschicht beginnt …
  • Wenn die Nacht um halb vier endet, weil der kommende Tag schon im Halbschlaf durchlebt wird …
  • Wenn einem hinter der Heldenmiene zum Heulen ist und die große Sinnfrage auftaucht …

Dann zählt all das dazu. Das ist das Leben.

Und es ist ein fataler Fehler, das zu übergehen. An fehlende Erholung kann sich niemand anpassen.

Es handelt sich natürlich nicht um eine Anpassungsstörung, wenn jemand mit einem Situationsungleichgewicht nicht klarkommt. Es ist eine adäquate Reaktion,

  • ein Gefühl von Beeinträchtigung und Bedrängnis zu verspüren,
  • sich zurückzuziehen,
  • ein erhöhtes Aufkommen von Sorgen zu erleben oder
  • Angst und Verstimmung zu erleben.

Hier liegt einer der großen Trugschlüsse in unserem von Defizitbeschreibungen determinierten Gesundheitssystem.
Nicht die Fähigkeit der Anpassung ist gestört.

Würde man sich an einen Jobverlust oder ausufernde Überstunden anpassen, käme das der Resignation, einer Kapitulation gleich.

Niemand sollte sich daran anpassen, keinen Job oder einen krankheitsfördernden Arbeitsalltag zu haben.

  • Menschen, die ihr Leben als gelingend erleben, passen ihre Umgebung bzw. ihren Bezug dazu so lange an sich an, bis sie Stimmigkeit erleben.
    Wenn sich ein Mensch in einem System der Repressalien an seine Umgebung anpasst, kann er selbst zum Unterdrücker werden – beginnend bei sich. Er wird anfangen, seine Anliegen zu ignorieren. Und wenn sie sich heftig genug zu Wort melden, wird er zuerst die Anliegen unterdrücken und dann seine Mitmenschen. Das ist leider nur allzu menschlich.
  • Wenn sich jemand in die Enge getrieben fühlt und Angst (lat. angustus, eng) verspürt, wenn er nachts wach liegt, weil eine geniale Idee verlangt wird, aber zu wenig Informationen über das Ziel vorhanden sind: dann ist das eine gesunde Reaktion.

Alles also im grünen Bereich, was das Vorhandensein Ihrer Meldesysteme betrifft, wenn sich diese melden. Wer in der Nähe der heißen Herdplatte zurückschreckt, hat Glück.

Oft benötigt nicht die Einzelperson eine Behandlung. Das System, in und mit dem sie interagiert, benötigt eine Umschau.

Es lohnt sich, die Geschäftsbedingungen für das Zusammenleben auf der Arbeitsebene und der Ebene des Privatlebens neu zu verhandeln.
Was sich krank anfühlt, ist oft ein Beweis für Gesundheit. Seele und Körper sind hochkompetent darin, Unstimmigkeiten zu melden.
Alles hat auf irgendeine Weise mit allem eine Wechselwirkung. Ein klares Ziel kann zu einem geradlinigen Weg führen. Eine unklare Situation, ein Nebelfeld in Verbindung mit dem Auftrag „Lauf!“ führt zum Zögern. Viele Systeme sind im Menschen wechselweise am Wirken – zum Wohle des Menschen.

Empfindet ein Mensch, dass eine Bedingung nicht stimmig ist, so sind Irritation und Rückzug gesunde Reaktionen.